Fall des Monats
Jugendlicher mit Zuckungen der Arme | 5-2015
>> zurück zur StartseiteEin 16-jähriger junger Mann berichtet, dass bei ihm seit etwa 6 Monaten mehrfach pro Woche Zuckungen in den Armen auftreten würden. Im weiteren Gespräch klärt sich, dass die plötzlich einschießenden Bewegungen aus den Schultern kommen. Die Muskelzuckungen treten fast immer morgens innerhalb der ersten Stunde nach dem Aufwachen auf. Epileptische Anfälle mit einer Bewusstlosigkeit oder einer kurzen Abwesenheit sind nicht aufgetreten. Die Mutter des Patienten hat im Alter von 17 Jahren erstmals und in den folgenden Jahren etwa fünfmal einen tonisch-klonisch generalisierten epileptischen Anfall – ebenfalls nach dem morgendlichen Aufwachen – erlitten. Sie wurde zwischenzeitlich mit einem Antiepileptikum, an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnert, behandelt. Seit dem 25. Lebensjahr sind keine weiteren epileptischen Anfälle mehr aufgetreten.
Der Jugendliche war bisher nicht antiepileptisch behandelt, da die diagnostische Zuordnung der Zuckungen unklar war.
In einer Video-EEG-Langzeit-Untersuchung über 48 h traten bei dem Patienten mehrfach morgens die von ihm schon beschriebenen Muskelzuckungen der oberen Extremitäten auf. Beim Schreiben auf der Tastatur seines Notebooks stieß er mit einer Hand gegen den Monitor, beim Schachspiel mit seinem Vater stieß er eine der Figuren von dem Brett. Im EEG fand sich zum Zeitpunkt der Muskelzuckungen eine generalisierte Entladungsaktivität mit mehreren rasch aufeinander folgenden Spitzen und dann einer langsamen Welle („polyspike-wave“).
Der elektroklinische Befund mit morgendlichen einschießenden Myoklonien in den Armen und generalisierten Polyspike-waves im EEG führt zu der Diagnose einer juvenilen myoklonischen Epilepsie (JME). Diese wird nach dem Berliner Epileptologen Dieter Janz, der sich schon in den 1950er Jahren mit diesem Syndrom intensiv beschäftigt hat, auch Janz-Syndrom genannt. Führendes klinisches Zeichen der JME sind die Extremitäten-Myoklonien, mitunter kommt es auch zu tonisch-klonisch generalisierten Anfällen. Die JME gehört zu den idiopathisch generalisierten Epilepsien (IGE), man geht ursächlich von einer genetischen Veränderung aus. Mitunter findet sich auch bei Familienmitgliedern ersten Grades eine IGE, die Mutter des Patienten litt an einer Epilepsie mit Aufwach-Grand Mal.
Therapie der Wahl bei IGE ist Valproinsäure. Wir haben dieses Antiepileptikum bei dem Patienten zunächst in einer niedrigen Dosis von 600 mg täglich eingesetzt. Zumindest in der ersten Woche unter Valproinsäure traten keine Myoklonien mehr auf.
In den vergangenen Jahrzehnten war man davon ausgegangen, dass die JME lebenslang antiepileptisch behandelt werden muss und dass ein Absetzen des Antiepiletikums fast immer mit einem Wiederauftreten der Anfälle verbunden ist. In den letzten Jahren haben allerdings fünf Langzeit-Studien gezeigt, dass die Prognose der JME deutlich besser ist als bisher angenommen. Bei vielen Patienten ist es jenseits der 4. Lebensdekade auch nach Absetzen der Antiepileptika nicht mehr zu epileptischen Anfällen gekommen.