Fall des Monats
Zerstören Anfälle Nervenzellen? | 1-2015
>> zurück zur StartseiteBei einem 32-jährigen Patienten ist vor 12 Monaten erstmals aus dem Schlaf ein tonisch-klonisch generalisierter epileptischer Anfall aufgetreten. Seitdem kam es zweimal aus dem Wachen zu einer Episode von weniger als einer Minute Dauer, die durch eine Abwesenheit und unwillkürliche Schluckbewegungen gekennzeichnet war – dies sind die typischen klinischen Zeichen eines automotorischen (= komplex fokalen) epileptischen Anfalls. Der Patient konnte nach dem Anfall gleich wieder sprechen. Ein EEG – im Wachen und im Schlaf – zeigt eine Verlangsamung rechts temporal, jedoch keine epilepsie-typischen Potenziale. Das MRT des Gehirns ist unauffällig. Bei diesem Patienten besteht eine kryptogene fokale Epilepsie, wsl. liegt der Anfallsursprung im rechten Temporallappen.
Bei der Beratung in unserem Epilepsie-Zentrum klären wir zunächst über die Grundlagen der Erkrankung Epilepsie auf und empfehlen dann – der Patient war bisher unbehandelt – die regelmäßige Einnahme eines Antiepileptikums. Da der Patient mit 105 kg übergewichtig war und er zudem um eine möglichst unkomplizierte Behandlung bat, empfahlen wir Zonisamid (= Zonegran®). Dieses Medikament führt sehr wahrscheinlich nicht zu einer Gewichtszunahme, sondern eher zu einer –abnahme, wegen der langen Halbwertzeit reicht zudem die tägliche Einmalgabe aus.
Wir klärten den Patienten darüber auf, dass er 12 Monate frei von epileptischen Anfällen sein muss, um wieder selbständig ein Kraftfahrzeug führen zu dürfen.
Am Ende des Gesprächs brachte der Patient die Frage vor, die ihn seit einiger Zeit am meisten bewegt: Gehen bei epileptischen Anfällen Nervenzellen unwiederbringlich verloren? Und bedeutet dies, dass er um seine kognitiven Fähigkeiten bangen muss? Wir konnten den Patienten beruhigen und ihn darüber aufklären, dass es bisher keine Hinweise darauf gibt, dass bei „normalen“ epileptischen Anfällen, die weniger als 2 min. dauern, Nervenzellen zerstört werden. Methodisch ist dies natürlich schwer nachzuweisen. Es gibt Langzeituntersuchungen mit dem MRT des Gehirns, die über einen Verlauf von mehr als 3 Jahren haben zeigen können, dass bei regelmäßig auftretenden epileptischen Anfällen, keine – im Vergleich zu Kontrollpersonen ohne Epilepsie – zusätzlichen Schädigungen aufgetreten sind.
Neuropsychologische Langzeituntersuchungen über Jahrzehnte haben zudem zeigen können, dass bei allen Menschen mit zunehmendem Lebensalter langsam Einschränkungen des Gedächtnisses auftreten, so auch in gleichem Maße bei Menschen mit Epilepsie. Der Unterschied besteht darin, dass bei Menschen mit Epilepsie schon zu Beginn der Erkrankung die Gedächtnisleistung leicht unter der von Menschen ohne Epilepsie liegen kann. Im Alltag hat dies in der Regel keine Bedeutung. Dies zeigt aber an, dass leichte Störungen des Gedächtnisses Folge der der Epilepsie zugrundeliegenden Gehirnerkrankung sind, nicht aber Folge der Epilepsie und der epileptischen Anfälle. Ältere Antiepileptika haben früher oft dazu geführt, dass Patienten mit Epilepsie hinsichtlich ihrer kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt waren. Die heute verfügbaren neueren Substanzen bergen dieses Risiko kaum noch.
Zusammengefasst: epileptische Anfälle führen nicht dazu, dass Nervenzellen zerstört werden, sie führen zudem nicht dazu, dass sich Gedächtnisstörungen entwickeln.